Das Wunder von Sauvage
Der Sturm auf das Tor würde
bald beginnen. Hilflos beobachteten Cedric und seine Gefährten von einer Anhöhe
aus, wie ein Katapult nach dem anderen in die vorderen Reihen gerückt wurde.
Dahinter formierten sich bereits kräftige Trolle rechts und links der wuchtigen
Rammböcke, um sie beim Angriffssignal in Richtung Tor zu schieben. Cedric
überlegte angestrengt, doch er fand keine Möglichkeit mehr, den zerstörerischen
Angriff auf sein Heimatland abzuwenden. Gemeinsam mit seinen Begleitern schien
er verurteilt zu sein, den Fall der Grenzfeste mitzuerleben, ohne auch nur
irgend etwas dagegen unternehmen zu können. In einem Anflug von Resignation
erwog er eine Attacke auf die Belagerungswaffen. Aber das würde ihren sicheren
Tod bedeuten und den Angriff der Midgarder wohl kaum verzögern. Auch die
anderen Gefährten dachten fieberhaft nach, suchten nach einem Ausweg aus dieser
hoffnungslosen Lage. Selbst Bohlen, der ja eigentlich die Gruppe hier verlassen
wollte, hockte mit noch auf dem Hügel und kratzte sich nachdenklich am Bart.
Sollte wirklich alles umsonst gewesen sein? Der wilde Ritt durch das Mularntal,
der Kampf gegen den Drachen? Überrascht stellte er fest, wie sehr er sich
wünschte, diese Midgarder Armee möge sich doch in Luft auflösen, obwohl es doch
seine eigenen Leute waren. Aber mehrere tausend angriffslustige Krieger
lösen sich nicht einfach in Luft auf. Oder...? Plötzlich erkannte er eine
Lösung, so verrückt und verwegen, dass er vor Aufregung aufsprang und laut
ausrief: "Es ist so einfach, es könnte sogar klappen!" "Was meint ihr
damit, Bohlen?" Cedric und die anderen blickten ihn erstaunt an. "Wartet
einfach ein paar Minuten, dann werdet ihr es wissen!" antwortete Bohlen, sprang
auf sein Pferd und ritt einfach davon, den Hauptweg zurück, weg von Sauvage. Er
wollte den anderen nichts von seinem Plan mitteilen, wollte nicht darüber
nachdenken, denn wenn er anfing zu denken, so fürchtete er, dann würde ihm am
Ende der Mut fehlen. "Ist er völlig durchgedreht? Warum reitet er zurück?"
fragte Ryan kopfschüttelnd und blickte dem Skalden nach, bis dieser fast nur
noch ein dunkler Punkt am nördlichen Horizont war. Von den Midgardkriegern
bemerkte niemand den davon reitenden Nordmann, ihre ganze Aufmerksamkeit war
einzig auf das Tor von Sauvage gerichtet, in gespannter Erwartung des
bevorstehenden Angriffs. "Schaut!" rief Cedric, "er kommt zurück!"
Bohlen hatte sein Pferd gewendet und preschte jetzt in vollem Galopp von
hinten an die versammelte Armee heran. Dann rief er lauthals mit seiner
kräftigen Stimme: "Gefahr, Gefahr! Feuer über Midgard! Ein Drache wütet in
Jordheim!" Zunächst bemerkten nur wenige die herangaloppierende Gestalt.
Bohlen fuchtelte wild mit den Armen und brüllte aus Leibeskräften: "Ein
Drache, ein gewaltiger Drache! Hört mir doch zu! Mularn ist nur noch Asche,
Jordheim brennt!" Immer mehr Midgarder wandten sich ihm zu, ihre Gesichter
spiegelten Überraschung und Erstaunen wieder, manche schauten bereits furchtsam
auf den aufgeregten Skalden auf dem durchgeschwitztem Pferd. Um Bohlen sammelte
sich eine Menschentraube. "Wie kann das sein? Seit Jahren gab es keine
Drachen in Midgard!" rief einer der Hauptleute verunsichert. "Aber jetzt
gibt es wieder einen, und was für einen!", schrie Bohlen. "Ihr wollt mir
nicht glauben? Wartet!" Er wühlte schnell in der Packtasche seines Pferdes,
bis er fand was er suchte: "Seht her, das hier hat der Drache über Jordheim
verloren!" Bohlen hielt Marylas frische Drachenschuppe mit beiden Händen
über seinen Kopf, weithin sichtbar für die riesige Menge, die ihm jetzt zuhörte.
Ein alter Kobold, der in seiner Nähe stand, wurde schreckensbleich und
kreischte: "Das ist eine Drachenschuppe! Wirklich eine Drachenschuppe! Seit
jungen Jahren sah ich so etwas nicht mehr! Es ist also wahr! Odin stehe uns
bei!" Jetzt erfaßte die Unruhe alle Zuhörer, plötzlich riefen und brüllten
alle durcheinander. Bohlen raffte sich zu einer letzten Anstrengung auf und
übertönte noch einmal das laute Stimmengewirr: "Reitet nach Midgard, Männer
und Frauen! Die Heimat braucht euch jetzt! Beeilt euch, reitet, reitet!" Und
die ersten sprangen schon auf ihre Pferde. "Meine Familie wohnt in Jordheim!
Wer kommt mit mir?" brüllte ein Zwergenhauptmann, sammelte auf diesen Ruf hin
sofort zahlreiche Midgarder um sich und ritt unverzüglich los. Jetzt hielt
es auch die anderen Krieger nicht mehr. Eine Gruppe nach der anderen preschte
Richtung Norden, zurück in die bedrohte Heimat, innerhalb weniger Minuten hatte
bereits ein Großteil der Angreifer den Aufmarschplatz verlassen. Vergessen war
für diesen Moment der Sturm auf das Sauvagetor. Diejenigen, die noch zweifelnd
und unentschlossen herumstanden, entschieden rasch, dem zurückreitenden
Hauptheer zu folgen, und sei es nur, weil sie sich plötzlich in ihrer geringen
Zahl sehr unwohl vor dem Albioner Grenztor fühlten. Selbst die Mannschaften an
den Belagerungsmaschinen ließen ihre Rammböcke und Katapulte zurück. Cedric
und seine Gefährten blickten völlig ungläubig und fassungslos auf das Geschehen.
Der Platz, auf dem vor einer halbe Stunde noch die gewaltigste Armee ihrer Zeit
gestanden hatte, den sicheren Sieg über Albion schon greifbar in der Hand,
dieser Platz hatte sich innerhalb kürzester Zeit völlig geleert. Es war ein
Wunder. Genau das, was sie gebraucht hatten.
Cedric fing sich als
erster, riß sich Bart und Zöpfe vom Gesicht und schmiß seinen Helm auf den
Boden. Dann ritt er vor das Tor, außerhalb der Reichweite der Bogenschützen und
rief laut: "Herulf, ich bin es, Cedric Heradon! Nicht schießen! Macht das
Tor auf, schnell!" Die Verteidiger auf den Zinnen hatten schon mit großer
Verblüffung den ungeordneten Rückzug der Midgarder verfolgt. Was mochte sie nur
dazu veranlaßt haben? Wilde Gerüchte machten bereits die Runde. Und jetzt
tauchten auch noch Albionier auf und begehrten Einlaß? Was für ein denkwürdiger
Tag! Cedrics Gefährten hatten sich zu ihm gesellt, und nicht nur Ryan
seufzte erleichtert, als sich die schweren Torflügel langsam und quietschend
öffneten. Der Weg nach Camelot war frei.
Herulf erwartete sie im
Burghof und bestürmte Cedric gleich mit Fragen, doch der sprang vom Pferd, griff
nach einer der albionischen Flaggen, die an den Steinwänden des Innenhofes
herabhingen und drückte sie Lancelot in die Hand, der noch auf seinem Ponie saß.
"Nimm die Flagge, Junge, und dann reite, reite schneller als der Nordwind!"
Lancelot griff wortlos nach der Fahne und gab Stoppel die Sporen. Cedric
brauchte ihm nicht zu erklären, wohin er reiten sollte und warum. In
halsbrecherischem Tempo verließen das Dartmoorponie und sein Reiter Sauvage in
Richtung Camelot, bald waren sie nur als Staubwolke im Süden zu erkennen. Die
Sonne stand schon tief am Horizont. "Reite, Lancelot, du schaffst es!"
flüsterte Cedric und blickte ihm nach. Dann erst nahm er Herulf neben sich wahr.
"Sir Heradon, so antwortet doch, was ist da eben draußen geschehen? Es ist
einfach unglaublich!" stammelte der Torwächter aufgeregt und etwas
durcheinander. Das plötzliche und scheinbar unerklärliche Verschwinden einer
ganzen Armee vor seinem Tor überstieg einfach das Fassungsvermögen des alten
Wächters. "Beruhigt Euch, Herulf! Wir wurden tatsächlich Zeugen eines
Wunders, und ein nordischer Skalde hat es vollbracht! Vielleicht wird eines
Tages ein Lied darüber geschrieben werden?" Er lächelte leise, und Herulf
starrte ihn an und zweifelte ernsthaft an Cedrics Verstand. Was faselte er da
von nordischen Skalden? "Hört zu!" rief dann Cedric zu den Umstehenden, "Wir
haben nur eine kurze Atempause, die Midgarder Armee wird wiederkehren,
schneller, als wir uns das wünschen! Also bereiten wir uns auf den nächsten
Angriff vor! Zerstört die Belagerungswaffen draußen und dann verschließt das
Tor!" Bohlens Täuschungsmanöver würde nicht lange wirken, davon war Cedric
überzeugt. "Bald treffen die Midgarder auf die ersten Landsleute, die in die
Gegenrichtung reiten. Die wissen natürlich nichts von einem Drachen..." erklärte
er Ryan. "Ja, dann reiten sie alle gemeinsam wieder hierhin zurück" nickte
Ryan bedächtig und grinste dann breit, "Und sie werden ziemlich sauer sein! Der
verrückte Skalde sollte sich in den nächsten Monaten nicht unter Midgardern
blicken lassen."
Die Träne eines Trolls
Lancelot ritt wie
der Teufel. Die letzten Ausläufer der Black Mountains flogen an ihm vorbei,
schon hatte er das Hügelland von Camelot erreicht. Weiter ging es in rasendem
Galopp. Vorbei dan dem Banditenhügel, dann eine scharfe Kehre nach rechts.
Weiter, nur weiter, da hinten war schon Nobs Pferdestation zu sehen, nur noch
wenige Minuten bis zur Abzweigung nach Cotswold. Die Abendsonne rötete bereits
die Spitzen der Berge im Westen. Es würde knapp werden, sehr knapp. Lancelot
hielt das Tempo so hoch wie möglich. Stoppel, das zähe, kräftige Pony hatte
von allen Pferden die mörderische Flucht durch das Mularntal am besten
überstanden, doch jetzt zeigte das treue Tier erste Anzeichen der Ermüdung.
Schaum trat vor den Mund, die Flanken bebten. Lancelot tätschelte die Stute am
Hals: "Brave Stoppel. Feines Tier! Nur noch ein wenig durchhalten, dann
haben wir es geschafft." Und Stoppel jagte weiter, als verstünde sie, wie
wichtig jeder Hufschlag war, die sie schneller an Camelot heranbrachte. Cotswold
kam in Sicht, und dahinter ragten bereits die weißen Mauern und Türme Camelots
in den dunkler werdenden Abendhimmel.
Niedergeschlagen stieg Lady
Winchell die Stufen der Burgmauer herunter. "Cedric wird es wohl nicht geschafft
haben", dachte sie, "Es war ja auch nur eine verzweifelte Hoffnung." Jetzt
mußte sie sich der Wirklichkeit stellen, den zum Tode verurteilten Zauberern in
der Akademie. Sie betrat die große Halle mit den auf Bahren und Betten
liegenden Kranken. Manche stöhnten verworrene Sätze, andere waren bereits ganz
still und wirkten fast leblos, wie die ganz junge Zauberin am Eingang der Halle.
"Mylady, sie wird wohl nicht wieder zu sich kommen!" flüsterte die Heilerin
Asme, als sie sah, wie traurig und nachdenklich Lady Winchell auf Fialla
herabblickte. Die sonst so frische rötliche Haut des Mädchens schimmerte in
bleichem, kalkigem Gelb wie schmutziges Kerzenwachs, und die Wangen fühlten sich
erschreckend kalt an, als Lady Winchell ihre Hand darauf legte. "Ja, es wird
bald vorbei sein. Du kannst dich bereitmachen, Asme. Reite zum Tor und hilf den
Verteidigern. Hier gibt es nichts mehr für dich zu tun!" sagte sie tonlos und
leise.
"Mylady, Mylady Winchell!" Ein junger Kundschafter rannte in
die Halle, stolperte aufgeregt und richtete sich wieder auf. "Ein Reiter
kommt über die Brücke, ein Troll! Und er trägt die albionische Flagge!"
Sofort richtete sich die Lady auf. "Lancelot!" rief sie aus: "Öffnet das
Tor, schnell! Und dann bringt ihn hierhin, sofort" Und sie schaute auf
Fiallas leblose Gestalt und hoffte, dass es noch nicht zu spät sein möge.
Durchgeschwitzt und schwer atmend stürmte Lancelot in die Halle. Nach
wenigen Augenblicken entdeckten seine suchenden Augen Fialla. Er erschrak
zutiefst bei ihrem Anblick, sparte sich jedes Wort der Begrüßung und schob Lady
Winchell sanft beiseite. Aus einem Beutel an seinem Hals nahm er den Trollstein,
legte ihn in die geöffnete Hand und es geschah, was er schon bei Radak
beobachtet hatte. Der Stein begann zu schimmern, erst rötlich, dann tiefrot.
Alle Heilerinnen und Heiler drängten sich am Bett der todkranken Zauberin
und beobachteten den seltsamen Troll. Was mochte er vorhaben? Als der Stein zu
pulsieren begann, legte Lancelot ihn ganz vorsichtig auf Fiallas kalte Stirn, so
sanft und behutsam, als wäre die junge Frau aus zerbrechlichem Glas. Der
rötliche Schimmer hüllte sofort ihren Körper ein. Sanft und beruhigend strahlte
das Licht des Steins, umfing Fialla wie ein warmer Nebel. Die Umstehenden
erkannten, das diese Macht einer völlig anderen Quelle entsprang, als ihre
Heilermagie oder die mächtigen Sprüche der Zauberer. Für einen Moment war es
völlig still in der Halle. Dann die ersten erstaunten Ausrufe: "Sie schlägt
die Augen auf! Seht doch!" "Es geht ihr besser, schaut sie euch an!
Unglaublich!" So vorsichtig, wie Lancelot den Stein auf die Stirn gelegt
hatte, nahm er ihn wieder herunter. Fialla blickte ihn jetzt mit ihren offenen
dunklen Augen an. Es lag ein Wiedererkennen darin, und für einen Moment schien
die Zeit für den jungen Troll stillzustehen. "Ihr seid zurückgekommen, ich
wußte es!" lächelte sie. "Haben alle Trolle so schöne Augen wie ihr?"
Lancelot wollte lächeln, aber es gelang ihm nicht. Irgendwas stimmte
plötzlich nicht mit seinen Augen, sie fühlten sich so feucht an. So etwas hatte
er noch nie erlebt. Vielleicht war er ja auch krank geworden? Jetzt rollte sogar
ein Tropfen aus dem rechten Augenwinkel über den kräftigen Backenknochen, löste
sich dort wie Tau von einem Grashalm und fiel genau in seine geöffnete Hand, in
der noch der Trollstein lag. Etwas Seltsames geschah. Als der Tropfen den
Stein berührte, schimmerten beide einmal kurz in strahlendem Blau auf, ein
helles, leichtes Klingen ertönte, als etwas aus der Hand wegsprang und auf die
Steinfliesen der Halle fiel. Lancelot blickte erstaunt zu Boden und hob auf, was
da heruntergefallen war. Zwischen seinen groben Fingern glitzerte ein reiner und
wunderschöner Diamant, geschliffen in Form einer Träne.
"Lancelot
Heradon", sagte Lady Winchell in entschlossenem Ton und brach so den Zauber des
Augenblicks, "Hier gibt es noch mehr Todkranke, die auf eure Hilfe warten! Bitte
beeilt euch mit eurem Werk!" "Und ihr, junge Zauberin...", wandte sie sich
an Fialla, "...wenn ihr glaubt, dass ihr reiten könnten, dann holt sofort
Zauberstab und Ausrüstung. Sauvage braucht jetzt jede Hilfe, die es bekommen
kann!"
Nacht der Entscheidung
Cedric stand bei den
Bogenschützen auf den Zinnen. Im letzten Licht der Abendsonne suchten seine
Augen im Norden eine vertraute Gestalt, doch sie fanden nicht, was sie suchten.
Aber wie er befürchtet hatte, kehrten die ersten Midgarder schon zurück und
sammelten sich in sicherer Entfernung der weitreichenden albionischen Pfeile.
Neben Cedric blickte auch Luka aufmerksam in die Ferne, einen Pfeil immer
abschußbereit auf der Bogensehne. "Sag mal, Junge!" fragte ihn Cedric,
"Kannst du irgendwo eine Spur von Bohlen entdecken?" Der Kundschafter
schüttelte den Kopf. "Nein, ich habe auch schon Ausschau nach ihm gehalten.
Nach seinem Drachentrick scheint er verschwunden zu sein, und an seiner Stelle
hätte ich mich auch unsichtbar gemacht." "Ja, das war vielleicht besser",
meinte der Waffenmeister mit einem Ausdruck des Bedauerns: "Dennoch ist es
schade, wir konnten uns nicht einmal verabschieden. Hoffen wir das Beste für
ihn!" "Natürlich", antwortete Luka, "Aber erst einmal sollten wir das Beste
für uns hoffen! Es ist noch nicht vorbei!" Er deutete mit einer Kopfbewegung
zu den Feinden, deren Anzahl mit jeder Minute zunahm. Schon war es eine
ansehnliche Streitmacht, im Widerschein ihrer Lagerfeuer erkannten sie Hunderte,
vielleicht schon tausend Krieger. "Sie sammeln wieder Holz für die
Belagerung", knurrte Luka, "Wir müssen wohl noch diese Nacht mit einem Angriff
rechnen!" Cedric wollte antworten, doch eine hohe, durchdringende Stimme aus
dem Innenhof unterbrach ihn. "Cedric Heradon! Wo warst du denn die ganze
Zeit?" Wie vom Blitz getroffen, drehte er sich um. "Emily!?" Mitten
im Hof stand die zierliche kleine Frau, in den Armen ein großes Bündel
Weidenzweige, die sie zu einem der Bogner unter der Festung bringen wollte. Als
eine der ersten war sie Lady Winchells Aufruf gefolgt, bei der Verteidigung von
Sauvage zu helfen. Die vergangenen Stunden hatte sie in den Kellergewölben der
Festung damit verbracht, Albions Handwerker mit Material zu versorgen. So wußte
sie nur wenig von den jüngsten Ereignissen vor dem Tor. Für einen Moment
glaubte Cedric, ein Lächeln in ihrem Gesicht zu erkennen, doch er mußte sich
getäuscht haben, denn als er zu ihr in den Hof lief, blickte sie ihn streng an.
"Wo ist der Junge, Cedric?" fragte sie in einem Ton, den Cedric nur allzugut
kannte. "Mach dir keine Sorgen, Schatz. Er ist jetzt unterwegs nach
Camelot!" antwortete er. "Und wo warst du die ganze Zeit, Cedric? Hier
stehen diese ganzen furchtbaren Nordleute vor dem Tor und von meinem Mann ist
wieder einmal nichts zu sehen!" "Aber Emily!",erwiderte er empört, "Das ist
nicht gerecht! Wir waren drüben im Grenzland und sind erst gerade..." "Im
Grenzland?!" rief sie erschrocken aus und deutete nach Norden, "In diesem
Grenzland da zwischen den scheußlichen Kobolden und Zwergen? Das ist doch
furchtbar gefährlich!" Cedric atmete auf. Endlich verstand sie! "Ja,
dein Mann hatte eine äußerst wichtige Mission für Albion zu erfüllen!" Er
bemühte sich, seiner Stimme einen bedeutungsvollen Anstrich zu verleihen. Doch
Emily fiel ihm nicht erleichtert und stolz um den Hals, wie er es erwartet
hatte, sondern auf ihrer Stirn zeigte sich eine tiefe zornige Falte und ihre
Augen durchbohrten ihn wie tödliche Dolche. Was hatte er denn jetzt wieder
Falsches gesagt? Emily warf die Weidenzweige zu Boden und stemmte die Fäuste
in die Hüfte: "Cedric Heradon, erzähl mir nicht, du bist mit unserem Jungen
in diesem Grenzland gewesen..." "Ähh, also..." Verflucht noch mal!
dachte er bei sich. "Wir reden darüber, wenn wir wieder Zuhause sind,
Cedric!" Langsam hob sie das Holz wieder auf, "Jetzt ist wohl nicht der richtige
Zeitpunkt dafür, schließlich müssen wir doch die Burg verteidigen. Also, hast du
nichts Vernünftiges zu tun?" "Wie du meinst, mein Schatz" erwiderte er etwas
hilflos. Emily hatte ihre Weidenzweige wieder eingesammelt, doch bevor sie
sich wieder in die Gewölbe aufmachte, lächelte sie Cedric an. "Ach, Cedric,
es ist schön, dass du wieder hier bist!" Dann ging sie und Cedric verstand
wieder einmal gar nichts mehr.
Der Angriff begann plötzlich. Diesmal
warteten die Midgarder nicht ab, bis ihre Rammböcke und Katapulte einsatzbereit
waren. Ein tiefes Horn ertönte im Norden, grausam und mächtig erfüllte der Klang
das Tal und jagte den Verteidigern kalte Schauer über den Rücken. Mit einem Mal
brüllten die Angreifer wie aus einer Kehle und stürmten ungeduldig auf das Tor
zu, Hunderte von Kriegern gleichzeitig. Über ihren Köpfen hielten einige von
ihnen lange Sturmleitern, mit denen sie die Steinmauern erklimmen wollten.
Wie eine Antwort erfüllte das Sirren der Pfeile die Luft. Die albionischen
Bogenschützen hatten sich auf diesen Augenblick vorbereitet, neben jedem lagen
große Bündel neuer Pfeile, kaum war der Köcher leer, konnten sie sofort
nachladen. Immer wieder spannte Luka den Bogen und schoß, legte wieder an, schoß
- pausenlos, ohne nachzudenken, wiederholte er den über Jahre eingeübten
Bewegungsablauf. Dort, wo die Federn der Pfeilschäfte immer wieder über Daumen
und Zeigefinger glitten, war die Haut bald blutig aufgerissen. Doch genau wie
die anderen Schützen spürte er nichts davon, angespannt suchten seine Blicke
immer wieder neue Ziele: Er legte bevorzugt auf die Runenmeister an, um die
mächtigen Zauberer nicht in Reichweite der Mauer kommen zu lassen. Auch die
nordischen Heiler mußten unbedingt aufgehalten werden. Aber die größte Gefahr
ging von den Leiterträgern aus. Schon lehnten die ersten Sturmleitern am
Steinwall, und geschickte Nordmänner und Kobolde versuchten emporzuklettern.
Doch neben den Bogenschützen standen Söldner und Waffenmeister bereit, drückten
die Leitern sofort mit langen Stangen von der Mauer weg. Aber kaum war ein
Versuch erfolgreich zurückgeschlagen, versuchten an zwei anderen Stellen ein
paar wieselflinke Midgarder, über die langen Holzleitern die Zinnen zu
erklimmen. Und trotz der Anstrengungen der Verteidiger, trotz der vielen Pfeile,
die erfolgreich ihre Ziele fanden... das Heer der Angreifer schien immer größer
zu werden. In den Reihen der Midgarder öffnete sich plötzlich eine Schneise.
Im Fackellicht der Angreifer war deutlich ein schwerer Rammbock zu erkennen,
flankiert von gut einem Dutzend kräftiger Trolle, jeder zum Schutz mit einem
großen Holzschild ausgestattet. "Sie wollen das Tor aufbrechen!" rief Ryan,
"Alle Waffenmeister in den Burghof!" Die mächtige Ramme wurde immer
näher an das Tor heran geschoben, kaum aufgehalten durch die Pfeile der
Bogenschützen, die dennoch alles versuchten. Ihre Pfeile spickten die
Holzschilde der Trolle wie Igelstacheln, drangen aber kaum hindurch, und gelang
es doch einmal, einen Troll der Belagerungsmannschaft zu verwunden, so sprang
sofort der nächste für den Verletzten ein. Unaufhaltsam und sehr rasch näherte
sich die schwere Waffe dem Tor. Cedric, Ryan und alle anderen Waffenmeister
hatten sich im Burghof versammelt. "Wir müssen einen Ausfall wagen!" schlug
Hauptmann Alphin vor, "Nur so können wir das Tor noch schützen!" "Die
Bogenschützen sollen uns Feuerschutz geben!" rief Cedric, "Los, zögert nicht
länger, öffnet das Tor!" Ein paar kräftige Krieger stemmten die mächtigen
Holzbalken hoch, welche beide Torflügel von innen verriegelten, das Eichentor
schwang auf und gab den Blick frei auf die gegnerischen Horden und die
Belagerungsramme, die sich nur noch wenige Meter vom Tor befand. "Für
Albion!" riefen die Kämpfer, zogen ihre Schwerter und stürzten sich in die
Schlacht. Aber auch die Midgarder Krieger brannten darauf, ihren Gegnern endlich
in direkten Kampf gegenüberzustehen und drängten sich axt - und
schwertschwingend auf ihre Feinde zu. Diese Schlacht war die härteste, die
Cedric und Ryan je erlebt hatten. Ihre Schwerter sangen ein blutiges Lied,
unterstützt von den Pfeilen der Schützen fielen Nordleute, Zwerge, Kobolde und
selbst die mächtigen Trolle unter den gezielten, tödlichen Hieben der Albionier.
Wie lange sie dort kämpften, vermochte Cedric später nicht zu sagen. Waren es
nur Minuten oder gar Stunden gewesen? Immer wieder hob er sein Schwert,
attackierte, parierte...er bemerkte irgendwann, wie ausgebeult sein Schild war,
und in der Schneide seines Schwertes zeigten sich bereits tiefe Scharten. Neben
ihm sackte ein Söldner wortlos zusammen, den Schädel gespalten von einer
Zwergenaxt. Dann ein Aufschrei neben ihm - Alphin griff sich an die Schulter, in
der tief ein nordischer Speerschaft steckte. Lange würden sie diese Stellung
nicht mehr halten können. Aus den Augenwinkeln erkannte Cedric einen Troll
mit erhobener Keule, der gerade seine Waffe niedersausen lassen wollte. Ohne
nachzudenken riß Cedric den mitgenommenen Schild noch einmal hoch, die Wucht des
Aufpralls zwang ihn in die Knie und er hörte ein unangenehmes Knacken in seinem
Arm. Jäher Schmerz durchzuckte ihn und die blitzschnelle Erkenntnis, daß der
Schildarm gebrochen war. Er versuchte sich aufzurichten, sackte aber wieder
zusammen, während der Troll zum nächsten Keulenhieb ansetzte. Cedric
begriff, das er diesen Schlag nicht mehr würde abwehren können... Schade, dachte
er noch...aber vielleicht schaffen es die anderen.
Der Troll hielt seine
Waffe mit beiden Fäusten umklammert hoch über dem Kopf, siegessicher überlegte
er einen Augenblick, wie er den fast hilflosen Feind am sichersten ins Jenseits
befördern sollte. Da leuchtete es plötzlich taghell auf, der Troll zuckte
und hielt dann in der Bewegung inne, als sei er festgefroren. Ein tiefes
Donnergrollen erklang, und aus dem Nichts erschien ein gleißender Blitz, fuhr in
die erhobene Keule und dann hinunter in den Körper. Der Troll öffnete den Mund
zum Schrei, doch bevor ein Laut seine Kehle verließ, war er bereits zu Asche
verbrannt. Midgarder und Albionier schauten ungläubig, dann begriffen sie.
"Die Zauberer! Die Zauberer sind zurück!" klang es laut von den Zinnen
herunter. Weitere Blitze fuhren durch die Reihen der Angreifer, mächtige
Frostzauber rissen plötzlich tiefe Lücken in die vorstürmenden Horden. Der
Vormarsch der Midgarder kam zum Stillstand. Cedric spürte plötzlich, wie
eine warme Woge seinen Körper durchzog, wie sich Geist und Körper erfrischten
und die Schmerzen im Arm deutlich nachließen. Da wußte er, dass auch die Heiler
gekommen sein mußten. Lancelot hatte sein Ziel erreicht, jetzt wendete sich das
Blatt. Jemand zog ihn aus der Frontlinie in den sicheren Burghof. Erschöpft
ließ er sich niedersinken und blickte in das Gesicht von Lady Winchell. "Ihr
habt es geschafft, Cedric!" lächelte sie, "Ruht Euch aus, jetzt können wir
Albion auch ohne Euch retten!" Cedric lächelte müde, und bevor es dunkel um
ihn wurde, hörte er das tiefe Nordlandhorn dreimal erklingen. Midgard blies zum
Rückzug.
Fialla
Lancelot schaute sich vorsichtig um, als
er den Klostergarten betrat. Tatsächlich, Lady Winchell hatte richtig vermutet.
Dort, an einem Brunnen gelehnt, erkannte er sofort ihre Gestalt - wie oft hatte
er in den letzten Tagen an sie gedacht?. Sie wandte ihm den Rücken zu, die
schwarzen, glänzenden Haare fielen offen hinab. Als er sich näherte, drehte sie
sich um, und es schien Lancelot, als sei sie noch schöner als in seiner
Erinnerung . Fialla lächelte strahlend, und da stand er nun und wußte nicht
so recht, was er sagen sollte.
"Ich habe mir sehr gewünscht, daß ihr
noch ein wenig Zeit für mich findet" begann Fialla. Zeit für sie finden?
wunderte sich Lancelot. Fast den ganzen Tag hatte er damit verbracht,
herauszufinden, wo sie steckte! "Äh, ich habe hier etwas...eine
Kleinigkeit....für euch", stammelte er und öffnete seine breite Trollhand, in
der die kostbare Kette aus dem Drachenschatz glitzerte. "Oh, das ist ja
wunderschön! Für mich?" rief sie. Die Halskette mit ihren kostbaren Steinen wäre
einer Königin wert gewesen. In längst vergessener Zeit wurde um dieses
Schmuckstück so mancher Krieg ausgefochten. Doch trotz der glitzernden Pracht
waren Fiallas Augen gar nicht auf die Kette, sondern auf den Überbringer
gerichtet. Lancelot wunderte sich etwas. Hatte ihm sein Onkel Radak nicht
versichert, daß Frauen solche Glitzerdinge mögen? Er räusperte sich:
"Gestattet mir eine Frage, Fialla" Sie nickte ihm aufmunternd zu.
"Als ich euch wiedersah, als ihr eure Augen aufschlugt in der Halle - da
habt ihr mich sofort wiedererkannt! Wie ist das möglich?" Die junge Zauberin
lächelte sanft. "Erinnert ihr euch an unsere erste Begegnung, Lancelot?
Damals in Cornwall? Alles, was ich hinter eurer schwarzen Rüstung sah, waren
eure Augen. Übrigens sehr schöne Augen, aber das sagte ich bereits" Sie
machte eine kleine Pause, hüstelte etwas und schien zu überlegen, wie sie
fortfahren sollte: "Daran habe ich oft gedacht, wißt ihr. Und diese Augen
konnte ich nicht vergessen. Viele Nächte habe ich mich gefragt, wer wohl der
große Ritter mit den schönen Augen sein mochte. Wer verbirgt sich hinter diesem
schwarzen Panzer?" "Und dann stellt ihr fest, dass unter in der Rüstung nur
ein Troll steckt", unterbrach Lancelot, "Aber ihr schient nicht im mindestens
darüber verwundert oder erschrocken?" "Nein, das war ich nicht", erklärte
sie, "Ich habe es sogar gehofft" "Wie bitte? Ihr meint vielleicht
befürchtet!" In Lancelots Kopf schien etwas durcheinander zu geraten. Weder
in Camelot noch in Humberton hatte sich jemals jemand darüber gefreut, dass er
ein Troll war, Luka vielleicht ausgenommen. Im Gegenteil, mit dieser Erkenntnis
war meist entsetztes Schreien und kreischendes Wegrennen verbunden. "Nein,
ihr versteht nicht!" Fialla schüttelte den Kopf, "Laßt es mich erklären. Ich
lernte euch kennen als einen großartigen Kämpfer..." "Naja!" warf Lancelot
ein. Was war schon so großartig daran, ein paar wildgewordene Buchen zu
zerhacken? "...ritterlich und mit hervorragenden Benehmen..." fuhr sie fort.
Lancelot schaute etwas verlegen auf die Stiefel seines Plattenpanzers. Nun
ja, immerhin hatte er bei ihrer ersten Begegnung nicht gefurzt, erinnerte er
sich. "....und dann waren da eben, wie erwähnt, diese unvergesslichen Augen.
Da wurde mir klar, dass ich einem solchen außergewöhnlichem Ritter
wahrscheinlich nichts bedeuten könnte. Schaut, ich habe befürchtet, unter der
Maske verbirgt sich wahrscheinlich ist es ein gutaussehender junger adliger
Highlander. Was wird der schon empfinden für eine kleine fette Zauberin?"
"Ihr seid nicht fett!" widersprach Lancelot energisch, "Vielleicht ein wenig
solider gebaut als die ganzen dürren Klappergestelle hier!" "Laßt mich zu
Ende erzählen...", unterbrach sie. "Auf jeden Fall erkundigte ich mich in
ganz Camelot nach dem schwarzen Ritter. Irgend jemand mußte doch etwas über euch
wissen! Doch zunächst vermochte mir niemand weiterzuhelfen" Lancelot
erinnerte sich daran, daß ihm Luka davon berichtet hatte. "Doch einmal, als
ich den Namen von Cedric Heradon erwähnte, erzählte mir ein Krieger aus
Humberton, dass ein gewisser Heradon und seine Frau einen Troll bei sich
aufzogen wie ihren Sohn. Vor einigen Wochen hätte aber Cedric mit dem Troll
Humberton verlassen. Da begann es mir zu dämmern! Denn als ich euch mit Cedric
in Cornwall traf, da sah ich keinen Troll. Oder habe ich doch einen gesehen und
ihn nur nicht erkannt? Sicher war ich mir erst, als ihr zurückkehrtet, doch mir
blieben viele Tage, um mich an diesen Gedanken zu gewöhnen." "Und es stört
euch überhaupt nicht, dass ich ein Troll bin?",fragte er vorsichtig, "Die
meisten rennen weg, wenn sie mich sehen, sogar die Monster. Menschen halten
Trolle für entsetzlich häßlich! Ihr nicht?" Ein strahlendes Lächeln zog über
ihr Gesicht. "Alle anderen Trolle sind entsetzlich häßlich. Aber für mich
seid ihr sehr schön!" und bevor er sich von seiner Verwunderung erholen konnte,
hauchte sie ihm einen Kuss auf die nachdenklich gerunzelte Stirn und lief
schnell durch den Garten davon. "Wir sehen uns gleich bei der Feier!", rief
sie noch.
"Lancelot! Komm endlich hierher. Wir werden im Saal erwartet!"
hörte er Cedrics Stimme wie aus weiter Ferne. Er stand immer noch wie
angewurzelt im Klostergarten und schaute auf die Pforte, hinter der Fialla
verschwunden war. Cedric kam und blickte Lancelot verwundert an. "Junge, du
machst ein Gesicht, als wärst du wieder in Emilys Nähstube. Was macht dir solche
Sorgen? Ist es wegen der Zauberin? Ich dachte sie mag dich?" "Ja, das tut
sie auch!" antwortete Lancelot verunsichert, "Auf jeden Fall hat sie es mir
erklärt. Aber vielleicht bin ich doch ein dummer Troll. So richtig verstanden
hab ich es nicht" Cedric lachte laut auf und plötzlich fiel ihm Emily ein.
"Versuch es erst gar nicht, Junge! Es ist unmöglich, eine Frau zu verstehen.
Außerdem ungesund! Bei dem Versuch, den Verstand der Frauen zu ergründen, kann
ein Mann seinen eigenen Verstand verlieren, glaube es mir! Und nun komm
endlich!"
Ein Ritter Camelots
Der Thronsaal war festlich
erleuchtet, alle Würdenträger und alle Ratsmitglieder hatten sich versammelt. So
manch einer war noch gezeichnet von der gestrigen Schlacht: Viele Waffenmeister
trugen frische Verbände. Auch Cedrics Schildarm hing in einer Schlafe und würde
wohl einige Wochen nicht zu gebrauchen. Schilde und Helme glitzerten zwar im
Licht der vielen Kerzen und Fackeln, doch nicht jede Beule, nicht jeder Kratzer
konnten so schnell entfernt werden. Als Cedric mit Lancelot an seiner Seite
den Saal betrat, erklangen helltönend und klar Fanfaren durch den Raum. Die
Gespräche verstummten, und alle Augen richteten sich auf Lady Winchell, die ihre
Kettenrüstung an diesem Tag gegen eine prächtige Robe getauscht hatte.
"Männer und Frauen Albions!", sprach sie mit sanfter, aber deutlicher
Stimme, die jedes ihrer Worte bis in den hintersten Winkel des Saales trug,
"Heute ist ein besonderer Tag" Es war nun völlig still geworden, und
Lady Winchell fuhr fort: "Noch gestern gab es keine Hoffnung mehr für
Albion, aber jetzt stehen wir hier versammelt und feiern die Rettung unseres
Reiches, die fast unmöglich schien. Inzwischen wissen wohl alle Anwesenden, was
sich in den letzten Stunden zugetragen hat. Doch ich möchte noch einmal
besonders jenen danken, die sich auf eine fast aussichtslose Reise begaben, um
unser Land zu retten. Ihnen allen schulden wir unseren tiefen Dank, und ich
möchte noch einmal ihre Namen nennen. Zunächst Luka Graccus aus Humberton!"
Alle klatschten und jubelten und schauten auf den Kundschafter, der ganz rot
wurde. Lady Winchell überreichte ihm einen kostbaren Bogen und Köcher mit den
allerbesten Pfeilen. Luka verneigte sich tief. Dann wandte sie sich Ryan Connor
zu. Wieder jubelten alle. "Mir wurde gesagt, daß ihr das Antlitz der Lady
Nimue vermißt. So nehmt denn diesen Spiegel. Er ist aus den Tiefen eines Sees
nahe Lethantis, und er zeigt das Abbild der Lady, wann immer ihr euch es
wünscht!" Obwohl er eigentlich zu alt dafür war, flog auch über Ryans
Gesicht ein rötlicher Schimmer, als er sich verbeugte. Jetzt stand die Äbtissin
vor Cedric Heradon. "Sir Cedric, was soll ich euch nur geben? Ihr habt
alles, was ein Mann sich wünschen kann. Doch ich habe erfahren, daß Ihr diese
Geschichte gerne festhalten möchtet" "So ist es!", antwortete Cedric, "Doch
leider führt meine Hand die Klinge sicherer als den Federkiel!" grinste er.
"Nun denn, ich werde euch eine meine Schreiberinnen an die Seite stellen.
Sie soll für euch das Geschehene festhalten, dann könnt ihr euren Enkeln später
immer wieder aus dieser Geschichte vorlesen." "Oh ja, das ist ein
hervorragender Einfall!" freute sich Cedric. Lady Winchell deutete auf eine der
Klerikerinnen, eine kleine, unscheinbare Frau, die unauffällig in der zweiten
Reihe stand und aufmerksam alles beobachtete. "Diese dort. Sie nennt sich
Wanderin. Erzählt ihr einfach die Begebenheiten, sie wird es dann schon
aufschreiben!" Die Wanderin blickte erschrocken hoch und einen Moment lang
schienen ihre Augen zu fragen: "Warum ausgerechnet ich?" Doch dann
verbeugte sie sich artig.
"Aber nun möchte ich daran erinnern, daß wir
auch zwei Helden großen Dank schulden, die eigentlich nicht aus unserer Mitte
stammen", erhob Lady Winchell noch einmal ihre Stimme. "Den einen, die
nordischen Skalden Bohlen, können wir hier leider nicht begrüßen, doch er wird
uns immer in Camelot willkommen sein" "...solange er nicht singt", flüsterte
Ryan Cedric zu. "Aber den anderen Helden seht ihr hier vor euch, Männer und
Frauen Camelots. Obwohl er nicht unter uns geboren wurde, verhielt er sich doch
in jeder Hinsicht so, wie es einem echter Kämpfer Albions gebührt. Und so hat er
uns alle daran erinnert, dass am Ende Mut, Freundschaft und Treue sind, die mehr
zählen als Herkunft oder Stand" Wieder jubelten und klatschten alle,
Hauptmann Alphin sogar besonders heftig, wie Cedric nebenbei auffiel.
"Tretet vor, Lancelot Heradon", sagte die Lady. Cedric gab ihm einen kleinen
Schubs und er schritt ruhig in die Mitte der Königshalle. Es herrschte eine
feierliche Stille, und alle schauten ihn an. "Lancelot Heradon" sprach Lady
Winchell feierlich, "Wollt ihr die Ehre annehmen und ein echter Kämpfer Camelots
werden?" "Aber ja!", antworte Lancelot sofort. Jetzt durfte er endlich
Waffenmeister werden, freute er sich! Lady Winchell lächelte. Sie hatte etwas
mehr mit ihm vor. "Dann kniet nieder, Lancelot Heradon!" Der verblüffte
Troll tat, wie ihm geheißen, und Lady Winchell griff nach dem Schwert, welches
ihr Hauptmann Alphin reichte. "Als Erste des Rates von Camelot habe ich das
Recht, euch die Würde zu verleihen, die euch zusteht" sagte sie und berührte mit
der Schwertspitze nacheinander beide Schultern. "Und so ernenne ich euch zum
Ritter von Camelot. Erhebt euch, Sir Lancelot Heradon" Langsam richtete er
sich auf, und es schien ihm wie ein Traum. Um ihn herum brandete ungeheurer
Jubel auf. Es war ein Tag, den weder er noch ganz Albion so schnell
vergessen würden. Der Tag, an dem ein Troll in Camelot den Ritterschlag erhielt.
Das Festmahl war so ausgelassen und ausgiebig, wie es die Hallen
Camelots lange nicht gesehen hatten. Die Tänze und Weisen der Spielleute
erklangen bis in den frühen Morgen, die Tische bogen sich unter der Last von
gebratenen Schweinen und Ochsen, Berge von Gemüse und Obst türmten sich auf, und
Kannen und Krüge voll würzigem Ale machten die Runde. Lancelot und Fialla
saßen nebeneinander, beide gemütlich an jeweils einem Spanferkel kauend,
erzählten sie sich zwischendurch allerlei wichtige und unwichtige Dinge und
schauten sich dabei immer wieder tief in die Augen. Cedric, Emily, und Ryan
hatten in der Nähe Platz genommen, schauten hin und wieder nach den jungen
Leuten und wollten sie auch nicht weiter stören. Dann schlug Cedric an sein
Glas, um ein paar Worte zu sagen. Stille kehrte ein und bierselige Gesichter
wandten sich ihm zu. Als er völlig ruhig war, nahm er einen tiefen Atemzug und
wollte gerade eine Lobeshymne auf das albionische Ale anstimmen, da krachte
plötzlich laut und durchdringend ein knarrend- pfeifendes Geräusch durch den
Saal. Sofort richtete Cedric seine Augen auf Lancelot, auch Emily schaute
finster auf den frischgebackenen Sir. Doch Lancelot machte ein glaubwürdig
unschuldiges Gesicht, langsam drehte er sich nach rechts zu seiner
Tischnachbarin, wo eine tiefrote Fialla schuldbewußt den Kopf zwischen die
Schultern senkte. "Ups!", flüsterte sie halblaut,"Da ist mir wohl was
rausgerutscht!" Lancelot grinste breit. "Cedric, stell dir vor, die
beiden haben einmal Kinder...", raunte Ryan seinem Freund zu. "Dann baue ich
ihnen ein eigenes Haus, Ryan", erwiderte Cedric lachend und fügte hinzu,
"Und es wird gegen die Windrichtung gebaut!"
Die Wanderin nahm das letzte Blatt auf, pustete
vorsichtig über die feuchte Schrift, um die Tusche schneller zu trocknen, und
malte dann sorgfältig eine kleine "59" in die obere rechte Ecke. Mit einem
leisen Aufatmen und großer Erleichterung legte sie es auf den Stapel vor ihr.
Und was für ein großer Stapel inzwischen vor ihr lag! Fast sechzig Seiten
engbeschriebenes feinstes Pergament. Und trotzdem, alles hatte sie nicht
erzählen können - wie Lancelot eine weiße Rüstung für seinen Onkel anfertigen
ließ und dann zu den Wildtrollen zurückkehrte, um den Stein zurückzugeben - Ach,
das wären sicher wieder zehn Seiten geworden. Und Pergament ist teuer, predigte
Lady Winchell immer - überlegt euch daher gut, was unbedingt aufgeschrieben
werden muß. Das Wichtigste hatte sie doch erzählt, oder? Vielleicht ist noch
nachzutragen, daß vor ein paar Wochen Cedric und Ryan wieder einmal ins
Grenzland reisten, sehr zum Unmut von Emily, aber die beiden wollten unbedingt
wissen, wie es Bohlen weiter ergangen war. Sie trafen ihn auch nach einiger
Sucherei an, und Bohlen berichtete, in Jordheim hätten sie ihn wirklich als
Spion ins Gefängnis geworfen. Allerdings blieb er dort nicht lange, kaum dass er
anfing zu singen, forderten die Mitgefangenen entweder seine sofortige
Freilassung oder seinen Tod. Also warf man ihn hinaus ins Grenzland, wo er sich
ja durchaus wohl fühlte. Jetzt aber möchte ich gerne ein schönes frisches
Ale, dachte sich die Wanderin und erhob sich. Vielleicht würde sie sich zu Ryan
in die Schänke setzen und sich zum zehnten Mal erzählen lassen, wie ihn riesige
Drachendame Maryla den Waffenmeister fast völlig zerquetschte? Morgen war
dann noch Zeit genug, einmal das Geschriebene durchsehen. Leider ist Cedric
Heradon immer so penibel mit der Rechtschreibung und den Fehlern, er würde
sicherlich wieder etwas auszusetzen finden. Aber viel Zeit blieb nicht mehr für
Korrekturen, vor zwei Tagen erreichte sie eine Botschaft von Lady Winchell. Wenn
ihre Arbeit hier beendet sei, solle sie sich sofort in Camelot melden. Es hatte
sich sehr dringend angehört. Was mochte die Lady nur wieder von ihr wollen? Aber
in Albion ist es ja niemals still und friedlich, und immer wieder warten
Geschichten darauf, erzählt zu werden...
Ende
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