DAOC-Guide.de :: Thema anzeigen - Der Findeltroll Albion am Abgrund

Etwas stimmte nicht! Schon als sie die große Zugbrücke überquerten, beschlich Cedric ein ungutes Gefühl. Plötzlich wußte er es: Sir Grynoch fehlte! Solange Cedric sich erinnern konnte, stand der alte Grynoch mit seinen Männern am Osttor der Stadt, und ohne den knurrigen alten Paladin erschien ihm das mächtige Tor seltsam nackt, fast wie ein Kämpfer ohne Schild. Das bedeutete sicher nichts Gutes!
Innerhalb der Stadtmauern bemerkten sie weitere Veränderungen: Die wenigen Menschen in dene Gassen warfen den Ankömmlingen mißtrauische Blicke zu, und beeilten sich, schnell die Sicherheit eines schützenden Hauses zu erreichen. Die Marktstände, an den sonst jederzeit lebhaftes Treiben herrschte, wirkten wie ausgestorben, so manche Bude stand leer und war durch Bretterverschläge gesichert.
"Verflucht, was ist hier los?"schimpfte Ryan und warf Cedric einen hilflosen Blick zu,"Wo sind die Wachen? Wo unsere Krieger und Magier? Hast du eine Erklärung dafür ?"
Cedric schüttelte den Kopf und blickte fragend zu Luka. Aber auch der Kundschafter zuckte die Schultern: "Tut mir leid, ich weiß auch nichts. Als ich fortritt, war es noch nicht so!"
Sie erreichten die Kathedrale von Camelot, und Lady Winchell erwartete sie bereits auf den Stufen. Cedric erschrak ein wenig. Die Äbtissin wirkte erschöpft, abgekämpft und viel, viel älter, als er sie in Erinnerung hatte. Dennoch zwang sie sich ein Lächeln ab, als sie die Ankömmlinge willkommen hieß.
"Cedric, gut das ihr gekommen seid. Bitte kommt mit!"
Sie stiegen von den Pferden, Cedric verkniff sich den Wunsch, die Klerikerin mit seinen Fragen zu überschütten und sie folgten ihr in den Innenhof der Kathedrale. Lady Winchell führte sie zu ihrem Arbeitszimmer, einer kleinen Kammer, in der aufgeschlagene Folianten auf dem Boden lagen und ausgerollte Karten in einem wilden Durcheinander über den Holztisch gebreitet lagen. Mit beiläufiger Handbewegung schob sie die kostbaren Unterlagen zur Seite und machte Platz für ihre Gäste.
"Entschuldigt diese Unordnung hier, Cedric, und nehmt bitte Platz."
Sie setzten sich, aber nun hielt es Cedric vor Ungeduld nicht mehr aus:
"Nicht nur eure Kammer ist in Unordnung, Mylady! Ganz Camelot ist nicht so, wie es sein sollte! Sagt uns endlich, was hier vorgefallen ist!"
Lady Winchell atmete einmal kurz durch, Verzweifung huschte über ihr Gesicht, dann fing sie sich und sagte mit ruhiger Stimme: "in furchtbares Unglück ist geschehen, und das Reich steht am Abgrund!"
"Was für ein Unglück, zum Teufel? Sprecht endlich!", drängte Ryan ungeduldig.
"Laßt mich erklären, ich erzähle nur so viel wie nötig, damit ihr das Ausmaß unserer Schwierigkeiten begreift." Sie schien sich ungern zu erinnern und es fiel ihr sichtlich schwer, fortzufahren:
"Es war vor genau drei Wochen, als in der Akademie das große Zauberertreffen stattfand. Alle großen und auch die jüngeren Magier waren dort, selbst die Zauberergilde aus Lethantis war vollzählig erschienen. Wie ihr wißt, werden auf diesen Treffen gerne neue Magiersprüche vorgestellt und erprobt, und unser Magus Carmac hatte einen alten Spruch ausfindig gemacht, auf den er sehr stolz war. Er glaubte, es sei ein mächtiger Schutzzauber. Erst wenige Stunden zuvor war eine Kurierin aus Cornwall eingetroffen, die dort von einem Erzmagier den letzten Rest der Formeln erhalten hatte. Vielleicht ist ja beim Aufschreiben ein Fehler passiert?", flüsterte die Lady gedankenverloren.
"Was meint ihr mit Fehler? Berichtet weiter!"
"Leider war ich nicht selber dabei, oder sollte ich sagen: Glücklicherweise? Aber man hat es mir so berichtet: Alle Zauberer, wirklich alle, versammelten sich in der Halle der Akademie. Ein neuer Spruch ist immer eine aufregende Sache, so etwas will sich keiner entgehen lassen. Magus Carmac begann mit der komplizierten Formel, die anderen Zauberer drängten sich gespannt um ihn und beobachteten ihn neugierig. Sie standen dicht an dicht in der Halle, saßen auf den Treppenstufen, kauerten auf der Empore. Niemand ahnte etwas Böses. Doch als Carmac seinen Zauber beendete, erhellte plötzlich ein giftgrünes, unnatürliches Leuchten die Halle, ein schrilles, kaum erträgliches Pfeifen erfüllte die Luft, eine grüne Wolke erschien über Carmacs Kopf und verbreitete sich in kreisrunden Wellen durch den ganzen Raum, so schnell, das keiner der Anwesenden ihr entkommen konnte.
Als ich mit meinen Heilern kam, fanden wir sämtliche Zauberer am Boden liegend, stöhnend und schreiend. Erst glaubte ich noch, wir könnten sie schnell wieder auf die Beine bringen. Unser Entsetzen war groß, als wir feststellten, daß sie alle vergiftet waren. Es ist ein langsames, aber tödliches Gift, wir können es nicht entfernen, wir können unsere Magier nicht heilen. Versteht ihr, wie entsetzlich, wie furchtbar das ist?"
Lady Winchell machte eine kleine Pause und schaute in die Gesichter der Zuhörer, die gespannt an ihren Lippen hingen.
"Alles, was wir vermögen, ist die Wirkung etwas zu verlangsamen. Alle meine Heiler, auch die ganz jungen - jeder, der nur einen Heilspruch aufsagen kann, ist zur Zeit drüben in der Akademie und alle tun ihr Bestes, um das scheinbar Unvermeidliche zu verzögern. Aber die Zeit läuft uns davon, wir können die Zauberer noch höchstens eine Woche am Leben halten, dann werden sie sterben, die jüngsten zuerst."
Lancelot wurde plötzlich sehr unruhig, ihm kam ein furchtbarer Verdacht.
"Was ist mit Fialla? War sie dabei?" platzte es aus ihm heraus.
Lady Winchell wunderte sich, woher der Troll die junge Zauberin kannte, doch dies war nicht der rechte Augenblick für solche Fragen. Also antwortete sie: "Leider ja. Auch Fialla liegt in der Akademie, schwer vergiftet."
"Nein!" rief er entsetzt aus,"Nicht Fialla!. Wo ist sie? Ich möchte sie sehen!"
"Bitte habt etwas Geduld, junger Freund!" beruhigte ihn Lady Winchell, "sie würde euch in ihrem Zustand nicht erkennen, und ihr könntet ihr auf diese Weise auch nicht helfen!"
Cedric, der sich schon seit Minuten nachdenklich am Bart kratzte, ergriff das Wort:
"Wenn ich das recht verstehe, sind alle unsere Zauberer nicht einsatzfähig, genau wie die Heiler, die sich um die Kranken kümmern müssen. Was für eine besch.... äh unangenehme Lage! Albion ist entscheidend geschwächt - wenn uns jetzt jemand angreift, wären wir so hilflos wie ein neugeborenes Baby in einem Grauwolfrudel. Jeder Feind hat nun ein leichtes Spiel mit Albion!"
"Und das alles wegen so einem verdammten... Unfall!", ärgerte sich Ryan.
"Unfall?" Zweifelnd hob Cedric die Augenbrauen, "Mag sein, aber kein Feind hätte Albion eine tiefere Wunde schlagen können! Was, wenn es kein Unfall war?"
"Wir hatten hier ähnliche Befürchtungen", stimmte Lady Winchell zu, "Deshalb sind alle noch verfügbaren Krieger - Waffenmeister, Paladine, Bogenschützen, Beschwörer - sofort zu den Grenzfestungen aufgebrochen, um diese gegen einen möglichen Angriff zu verstärken. Außerdem haben wir solange wie möglich versucht, die dramatischen Ereignisse geheim zu halten. Doch leider sickerte schon einiges durch - Die Menschen haben Angst und verlassen die Stadt!"
Cedric nickte. Jetzt begriff er das merkwürdige Benehmen der Leute in den Straßen, und auch Sir Grynochs Verschwinden war verständlich. Aber eine Sache war ihm noch unklar:
"Lady Winchell! Warum habt ihr uns aus Cornwall hierher rufen lassen? Doch nicht, damit wir mit euch hier das Ende Albions erwarten?"
"Ihr vermutet richtig. Es gab einen guten Grund, euch rufen zu lassen. In den Tagen nach der Katastrophe wollte ich nicht einsehen, das wir uns einfach in dieses Schicksal fügen sollen. Ich erinnerte mich, einmal etwas gelesen zu haben..." sie deutete auf die herumliegenden Schriften und Karten, "viele Stunden habe ich gesucht, bis ich die Stelle fand. Leider ist dies nur die albionische Übersetzung. Hört zu!"
Lady Winchell nahm einen abgegriffenen Lederband, auf dem Einband entzifferte Cedric in abblätternden Goldlettern den Titel "Midgardlieder". Sie schlug eine markierte Stelle auf und zitierte:
"Im hohen Norden, tief in den Bergen jenseits des Mularntals,
wo die Abendsonne die Bergspitzen mit rotem Feuer entzündet
Gab einst Odin seinen treuesten Kindern, den Trollen, ein Geschenk
Ein Stein, der alle Wunden heilt, alle Schmerzen, alles Gift,
doch nur in den Händen der großen Midgardkinder entfaltet er Kraft
auf das es immer ihr Geheimnis bliebe
wie die Träne eines Trolls"

Die Zuhörer schwiegen einen Moment und schauten sich zweifelnd an.
"Was bedeutet das?" fragte Luka.
"Mmmh, die Rede ist da von einem Stein, der jede Krankheit heilt. Das hätten wir wirklich nötig!" brummte Ryan, "Aber es ist nur ein altes Lied! Gibt es diesen Stein überhaupt?"
"Werter Ryan Connor, ich weiß es nicht", antwortete Lady Winchell, "Mehr als das habe ich euch nicht anzubieten. Auch kann ich nicht sagen, wo und wie ihr suchen sollt. Es ist eine verzweifelte Hoffnung, sonst nichts."
"Wenn ich das recht verstanden habe, funktioniert dieser Stein, wenn es ihn denn gibt, nur wenn ihn ein großes Midgardkind benutzt", überlegte Cedric laut "...also ein Troll?!"
"So sehe ich das auch!" bekräftigte Lady Winchell, und ihr Blick wanderte von Cedric über Ryan und Luka hin zu Lancelot.
Es wurde sehr still in der kleinen Kammer, und Lancelot spürte plötzlich auch die Blicke der anderen auf sich gerichtet. Er atmete einmal tief aus, und von dem Luftzug wurden fast die Karten vom Tisch gefegt. Dann erhob er sich langsam:
"Gut, ich werde losreiten und dieses Stein- Tränen -Dingsda holen. Dann machen wir Fialla und die anderen wieder gesund und alles wird wieder gut!"

Aufbruch ins Abenteuer

"Allein wirst du nirgendwo hinreiten, mein Junge!" erklärte Cedric sehr bestimmt, "Und erst recht nicht quer durch Midgard. Wer soll da auf dich aufpassen, he? Wenn es denn schon sein muß, dann komme ich mit."
"Und wer paßt auf dich auf, Cedric?“ grinste Ryan frech, "Es sieht so aus, als wäre ich auch dabei!"
Lady Winchell lächelte ein wenig. Sie hatte von den beiden Waffenmeistern nichts anderes erwartet. Da meldete sich Luka zu Wort:
"Und ich will auch mit! Ihr werdet einen Kundschafter brauchen!"
Seine Augen blitzten vor Begeisterung. So ein Abenteuer würde er sich nicht entgehen lassen.
Ryan musterte ihn zweifelnd:
"Du bist zwar mutig, aber noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Das ist eine Aufgabe für Männer! Hör zu: Wir müssen durch das gesamte Grenzgebiet, da gibt es Monster, die fressen ein Jüngelchen wie dich mit einem Happs, bevor du überhaupt merkst, das sie hinter dir her sind."
Luka schaute beleidigt:
"Ich bin schon auf der 18ten Ausbildungsstufe, mich frißt so schnell keiner. Außerdem bin ich sehr schnell!"
"Ja, ich fürchte auch", brummte Ryan,"..sehr schnell tot. Nach dem Grenzland beginnen die Probleme erst richtig. Wie kommen wir durch die Tore nach Midgard hinein? Selbst wenn das gelingen sollte: Midgard ist voll von Leuten, die Albionier nicht mögen, falls du das noch nicht wissen solltest, mein Kleiner. Wenn du denen erzählst:"Ich bin schon auf der achtzehnten Ausbildungsstufe!", dann lachen die einmal laut, bevor sie dich in Stücke hacken!"
"Für euch ist es auch nicht ungefährlich";, quengelte Luka weiter, "Und wenn ich mitkomme, kann euch in Humberton frische Pferde besorgen. Mein alter Herr ist doch Pferdehändler."
Das war ein Argument. Cedric hatte längst erkannt, das der Junge von seiner Idee nicht ablassen würde, und frische Pferde könnten sie gut brauchen.
"In Ordnung, Luka", entschied er,"Dann lauf zu deinem Vater und hole uns gute Pferde, die besten die du bekommen kannst. Am besten fünf oder sechs, damit wir Tiere zum Wechseln haben. Das wird ein wilder Ritt durch das Grenzland, und unsere Zeit ist denkbar knapp. Wir sollten noch vor der Dämmerung losreiten!"
Luka verschwand freudestrahlend.
"Meine Diener werden euch ein paar Vorräte zusammenpacken!" erklärte Lady Winchell,
"doch Ryan hat völlig recht: Wie kommt ihr nach Midgard hinein, einmal quer durch und dann wieder heil heraus? Eigentlich gibt es da nur eine Möglichkeit...zumal ihr einen Troll bei euch habt!"
Cedric begriff schnell.
"Ryan und ich als Nordmänner?" Er grinste breit.
"Bärte haben wir ja, und fluchen wie ein Nordmann kann er auch!", er warf Ryan einen belustigten Seitenblick zu,"und wenn er den Met so schnell herunterstürzt wie sonst das Ale, dann werden sie ihn noch glatt zum Anführer wählen. Aber was machen wir mit Luka?"
Ryan schaltete schnell:
"Das ist unser gefangener albionischer Kundschafter!", verkündete er lachend,"Wir müssen ihn nach schnell Jordheim bringen! Eine wichtige Mission, die keinen Aufschub duldet!"
"Mmmh.....", in Cedrics Gesicht standen immer noch Zweifel, "Ob das gutgeht? Aber leider habe ich auch keinen besseren Plan!"
"Wir haben noch Midgardkleidung und Waffen hier, sucht euch gleich etwas aus!", warf Lady Winchell ein, "Die Midgarder sind eigentlich fast normale Leute, nur müßt ihr ein paar kulturelle ....äh Eigenheiten beachten, damit ihr nicht so auffallt."
"Was meint ihr damit?"
Cedric beugte sich neugierig vor. Lady Winchell stöhnte leise. Wie erklärt eine albionische Klerikerin, die ihr Wissen nur aus alten Büchern hat, drei albionischen Waffenmeistern in kürzester Zeit, wie sich Midgards Nordleute und Trolle verhalten? Gut, sie würde sich auf das Wichtigste beschränken.
"Die Nordleute beginnen mindestens jeden zweiten Satz mit: <Bei Odin und bei Thor!>, gefolgt von einem kräftigen Fluch. Der Ruf eines Nordmanns hängt ab von der Menge Met, die er verträgt. Wenn ihr zu einem Nordmann höflich sein wollt, dann rühmt ihr seine Trinkfestigkeit."
Lancelot war bisher sehr schweigsam gewesen. Er machte sich große Sorgen um Fialla. Aber Lady Winchell hatte ja Recht, er konnte im Moment mehr für sie tun, wenn er sich auf seine Aufgabe hier konzentierte. Jetzt wandte sie sich ihm zu:
"Die Midgardtrolle reden eigentlich wenig, und mit der Allgemeinsprache tun sie sich besonders schwer: Sätze über drei Worte finden sie sehr anstrengend, und Grammatik halten sie für üble feindliche Magie. Aber hütet euch, sie deshalb für dumm zu halten!"
Der junge Troll hörte ihr aufmerksam zu während sie fortfuhr:
"Ja, und was den Nordleuten ihre Trinkfestigkeit, das ist für die Trolle ihre Fähigkeit...äh.....wie soll ich es nennen?" Angestrengt suchte sie eine Umschreibung für einen Ausdruck, der ihr als wohlerzogene Klerikerin Albions nicht so recht über die Lippen wollte:
"Na sagen wir mal: Wind zu machen."
Ryan und Cedric begriffen sofort, was sie meinte und prusteten los, und auch Lancelots Augen fingen an zu strahlen. Dieses Midgard war vielleicht gar nicht so übel?
"Lancelot gut Wind machen!" sagte er selbstbewußt, "Viel Wind! Laut Wind! Wollen hören?"
"Nein, nein, warte damit bis hinter die albionische Grenze", wehrte die Lady entschieden ab.
"Genau!", pflichtete ihr Ryan bei: "und wenn du Wind machen willst, reitest du hinter mir, mein Junge!"
Sie suchten sich passende Midgardkleidung und schleppten sie mit den Vorräte zum Nordtor der Stadt. Als die Sonne bereits tief am Horizont stand, kam Luka endlich mit den Pferden heran galoppiert. Sie zählten sechs Reittiere.
"Das hier ist Stoppel, sie ist für dich!"
Stolz übergab er Lancelot die Zügel einer kräftigen struppigen Stute, die sofort versuchte, nach Lancelots Hand zu schnappen.
"Laß das, das kitzelt", wehrte der ab.
"Stoppel ist etwas wild, sie ist zur Hälfte Dartmoorponie", erklärte ihm Luka,"Aber sehr stark und ausdauernd, ein gutes Pferd für einen Troll!"
"Aufsteigen, Männer!" rief Cedric, "Wir reiten die Nacht durch. Vor Tagesanbruch müssen wir Hadrians Wall erreicht haben!"
"Viel Glück euch allen!" verabschiedete sie Lady Winchell, "und denkt daran, das Schicksal des Reiches liegt in euren Händen! Ihr müßt vor Ende des siebenten Tages zurückkehren, sonst ist alles umsonst!"
Als die vier ihren Pferden die Sporen gaben, erlosch gerade der letzte Sonnenstrahl hinter den Gipfeln der Black Mountains. Die erste Nacht brach an. Lady Winchell blickte ihnen gedankenverloren nach. Zwei grauhaarige Waffenmeister, ein riesiger Trolljunge und ein unerfahrener Blondschopf. Die einen vielleicht schon zu alt, die anderen auf jeden Fall zu jung. Das war also Albions letzte Hoffnung! Konnten diese seltsamen Gefährten eine so gefährliche, verzweifelte Mission erfolgreich zu Ende bringen? Ihr fröstelte, nicht nur von aufziehender Abendkühle, und mit tiefer Sorge kehrte sie zu den anderen Heilern zurück.

Sie ritten wie der Wind an Humberton vorbei, durchquerten Ludlow und erreichten bereits nach zwei Stunden Fort Sauvage. Lukas Pferde erwiesen sich als kräftig und schnell, er hatte die Besten aus seines Vaters Stall ausgewählt. Wenn wir dieses Tempo beibehalten, dachte Cedric hoffnungsvoll, dann könnten wir es sogar schaffen! Wenn nichts dazwischenkommt. Wenn wir diesen Trollstein sofort finden. Wenn wir ihn problemlos mitnehmen können. Wenn, wenn... es gab für seinen Geschmack einfach zu viele Wenns bei der ganzen Geschichte!
Am Tor von Sauvage sprangen sie ab. Ein grauhaariger Wächter begrüßte sie freudig:
"Cedric Heradon? Wie lange habe ich euch nicht mehr hier gesehen? Und Ryan ist auch dabei! Und wer ist dieser kräftige Kerl da?" Dabei deutete er auf Lancelot.
"Den kennt ihr doch auch, Herulf, alter Knabe!" grinste Cedric. Herulf besah sich den Troll genauer, seine Augen waren mit den Jahren etwas schlechter geworden. Plötzlich rief er erstaunt:
"Ein Troll! Ist das....ist das etwa das kleine Trollbaby, das ihr vor Jahren über die Grenze gebracht habt! Der kleine schreiende Stinker?"
"Richtig!" sagte Ryan augenzwinkernd, "Nur das er jetzt ein großer Stinker ist! Deshalb bringen wir ihn wieder nach Midgard."
Herulf beäugte Ryan mißtrauisch. Machte der Waffenmeister etwa Witze auf seine Kosten?
Cedric hatte kein Lust auf unnötige Zeitverschwendung:
"Im Ernst, Herulf, wir haben es ziemlich eilig. Bitte mach einfach das Tor auf, nach unserer Rückkehr erklär ich alles".
"Wenn es eine Rückkehr gibt", dachte er im Stillen.
Kopfschüttelnd öffnete Herulf das Tor, und die Männer ritten in die gefährlichen Weiten des Grenzlandes, durch die sternklare Nacht immer weiter Richtung Norden.


Von Bärten und Barden

"Wie schnell man doch mit guten Pferden vorankommt!" wunderte sich Cedric. Noch vor Mitternacht hatten sie Excalibur Castle hinter sich gelassen und jagten nun in wildem Ritt durch die Hügel von Pennine Mountains und an der Feste Caer Sursbrooke vorbei. Als sich das zarte Rot der Dämmerung am Horizont zeigte, tauchten vor ihnen schon die Ruinen alter Aquädukte auf, Überreste jener Zeiten, als die damals glorreiche römische Legion den Schnittpunkt der drei Reiche beherrschte. Sie hatten Hadrians Wall erreicht!
Cedric ließ absatteln und führte die Gruppe abseits der Straße zu einem versteckten Waldstück, in dem sie sich ungesehen in Midgardkrieger verwandeln sollten, zumindest in das, was sie dafür hielten. Doch Ryan meinte nach dem Umkleiden, die grobe Kettenrüstung wäre zu hart und außerdem würde sie ganz furchtbar scheuern. Außerdem gefiel es ihm nicht, die Ausrüstung eines vermutlich gefallenen Kriegers anzuziehen. Hier und da fand er verdächtige Flecken auf dem Kettenhemd. War das nur Rost oder hatte hier ein albionisches Schwert seinen tödlichen Weg durch die Eisenbeschläge gefunden?
Lancelot dagegen schien sich in der neuen Ausstattung sehr wohl zu fühlen. Zwar fand er sie bei weitem nicht so bequem und sicher wie seinen schwarzen Panzer, aber sie war für einen Troll gefertigt, einem großen Troll, und er konnte sich gut darin bewegen.
"Perfekt!" bewunderte ihn Ryan, "Du siehst aus, als hättest du dein ganzes Leben hier verbracht!"
Was man von ihm und Cedric leider noch nicht behaupten konnte.
"Cedric, du kommst mir immer noch vor wie ein verkleideter Albionier" bemerkte Ryan sorgenvoll.
"Mmmh, du mir auch", brummte dieser:
"Es ist dieser verfluchte Bart, er ist einfach nicht lang und buschig genug für einen Nordmann. Aber wir haben nicht die Zeit, ihn wachsen zu lassen. Es muß so funktionieren!"
Er forderte Luka auf, seine Waffen abzugeben, was dieser nur unwillig tat. Kein Kundschafter trennt sich gerne von Bogen und Messer, aber ein bewaffneter "Gefangener"? Das ging nun wirklich nicht.
Anschließend warf Cedric einen prüfenden Blick auf seine "Midgarder". Die gestrige Zuversicht war plötzlich wie weggeblasen. Jeder, der Augen im Kopf hatte, würde doch sofort merken, das da etwas nicht stimmte. Aber nun hatten sie keine Wahl mehr. Cedric überlegte.
"Wir rasten hier ein paar Stunden, damit wir endlich etwas Schlaf bekommen. Bei Dämmerung reiten wir in das Midgarder Grenzgebiet. Wenn dort Nachts so wenig los ist wie bei uns, fallen wir nicht auf!". Zumindest hoffte er das sehr.
Die paar Stunden Ruhe taten ihnen gut, abwechselnd hielten sie Wache, und als die Sonne bereits wieder tief am Horizont stand, sattelten sie die Pferde und ritten weiter, diesmal nach Osten.
Auf dem Hauptweg war aber noch viel Volk unterwegs, zahlreiche Reitergruppen kamen ihnen entgegen und preschten in Gegenrichtung an ihnen vorbei. Zu ihrer Überraschung schien niemand von ihnen Notiz zu nehmen. Sie hatten es alle eilig, diese Nordmänner, Zwerge und Trolle, schienen Wichtigeres im Kopf zu haben als einen Blick auf die kleine seltsame Vierergruppe zu werfen. Lancelot schaute immer wieder mit offenem Mund den Reitern nach. Noch nie hatte er andere Trolle gesehen, und jetzt gleich so viele auf einmal! Die meisten schienen sogar kleiner als er, und die Gesichter und die Farben der steinharten Trollhaut waren so unterschiedlich wie die der Haut bei den Menschen. Gerne hätte er seine Artverwandten etwas genauer betrachtet, doch Cedric trieb die Gruppe an, in hohem Tempo weiterzureiten, um nicht aufzufallen. So durchquerten sie das enge Tal, welches die Midgarder "Odins Tor" nannten. Niemand hielt sie auf, keiner stellte Fragen. Cedric war regelrecht verblüfft, denn das hatte es sich viel schwieriger vorgestellt. Andererseits- die vielen Midgarder, die so entschlossen in Richtung Albion ritten, beunruhigten ihn auch. Das schienen keine Jagdausflügler zu sein, eher sah es aus wie ein Aufmarsch.
Es dunkelte, und nach wenigen Meilen waren sie wieder allein auf dem Weg. Cedric führte sie weiter Richtung Osten. Mit Ryan war er in jungen Jahren schon einmal hiergewesen und hatte mit anderen albionischen Kriegen versucht, den Midgardern die ein oder andere Festung abzujagen, doch er erinnerte sich nur ungern daran. Damals hatten sie ganz schön was auf die Nase bekommen von den Zwergen und Trollen. Die Bergkuppen vor ihnen - waren das nicht die sogenannten Jamlandberge? Er entschied, einen respektvollen Bogen um die dortigen Stützpunkte zu schlagen.
Es war kurz vor Mitternacht, als Ryan plötzlich ausrief:
"Schaut mal da vorne, da hat jemand Schwierigkeiten!"
Sie zügelten die Pferde. Etwa eine halbe Meile vor ihnen, noch auf dem Weg, schlug sich eine Gestalt -ein Nordmann - mit einem wilden Tier herum. Es sah so ähnlich aus wie ein Basilisk und mit einmal erinnerte sich Cedric: "Das ist eine Cockactrice! Äußerste Vorsicht bitte!"
Auch Lancelot beobachtete die Szene ungeduldig. Zum einen pflegte er eine herzliche Abneigung gegen jedes Vieh, das so ähnlich aussah wie ein Basilisk und zum anderen hatte es für seine Keule lange keine Arbeit mehr gegeben. So entschloß er sich einfach, dem armen Kerl da vorne zu helfen, zog die Waffe und gab Stoppel die Sporen, bevor Cedric noch rufen konnte: "Junge, was machst du da, bleib hier!"
Der kämpfende Nordmann hatte der Cockactrice kaum noch etwas entgegenzusetzen, Lancelot erreicht den Schauplatz im buchstäblich letzten Moment, als der Krieger bereits in die Knie sackte und sich auf seine Reise nach Walhalla vorbereitete.
Der Troll sprang mit erhobener Waffe vom Pferd und ließ im Sprung seine Keule auf den kleinen Schädel sausen. Die Actrice krähte laut und schmerzerfüllt, ließ von ihrem Opfer ab, doch bevor sie Lancelot ins Visier nehmen konnte, hatte sich Stoppel, das eigenwillige Dartmoorpony, einmal um seine Achse gedreht und schlug mit beiden Hinterläufen der Cockactrice kräftig in die Rippen. Lancelot lachte überrascht: "Stoppelchen, du bist ja ein Kampfponie!"
Dann erledigte er die schwer taumelnde Angreiferin mit ein paar gezielten Schlägen.
Cedric, Ryan und Luka hatten den Schauplatz des Kampfes inzwischen erreicht. Cedric war ärgerlich, bemühte sich aber, es nicht zu zeigen. Eigentlich durfte er Lancelot ja keinen Vorwurf machen, schließlich hatte er ihn ja dazu erzogen, den Schwächeren stets aus Schwierigkeiten zu helfen. Aber mußte er das gerade hier und heute tun? Sollen doch diese Midgarder mit ihren wilden Viehern selber klarkommen! Alles war bisher so problemlos gelaufen. Jetzt erhob sich stöhnend der verletzte Nordmann vor ihnen, und taxierte überrascht seine Retter.
"Bei Odin und Thor!" rief er aus, "Was ist das für seltsames Volk, das einem Skalden aus der Klemme hilft?"
Wie Cedric befürchtet hatte, taugte ihre Tarnung nicht allzuviel. Jetzt mußte ihm etwas einfallen.
"Bei Thors Hammer!", antwortete er laut,"Was ist das für ein Skalde, der hier nachts allein herumwandert? Die verfluchte Cockactrice wollte euch gerade zu euren Ahnen befördern!"
"Bei Bragi, mich nennt man Bohlen, den Sänger!" erwiderte der Nordmann, "Doch wer seid ihr? Ihr sprecht wie Nordleute, aber ihr seht merkwürdig aus. Was ist mit euren Bärten geschehen? Kein Krieger trägt die Zierde eines Mannes so seltsam wie ihr. Fast seht ihr aus wie unsere albionischen Feinde!"
Cedric überlegte fieberhaft, dann kam ihm eine plausible Erklärung in den Sinn:
"Gut bemerkt, Skalde, bei Odin, ihr habt ein scharfes Auge! Mit voller Absicht haben wir uns so hergerichtet, damit unsere verfluchten Feinde uns für welche der Ihren halten! Denn wir kommen gerade aus dem Sauvagewald, und dort hatten wir den geheimen Auftrag, einen ihrer hinterhältigen Kundschafter gefangenzunehmen. Und seht hier...", er zeigte stolz auf Luka, der etwas verständnislos schaute, "wir haben diesen Auftrag erfüllt, bei Odin! Unerkannt ritten wir durch den Wald und griffen uns diesen Burschen hier."
"Oh, bei Bragi und bei Tyr, das ist ja ein echter Albionier!" Bohlens Stimme drückte ehrliche Bewunderung aus,"Dann habt ihr ein sehr großes Opfer gebracht, um Midgard zu dienen!"
"Aber ihr seid mir noch die Antwort schuldig, was ihr hier an diesem Ort treibt, allein in der Dunkelheit?" fragte Cedric mit gespieltem Mißtrauen. Vielleicht würde es ihm ja gelingen, diesen Skalden etwas einzuschüchtern?
"Als Skalde wandere ich oft allein, um Inspiration für meine Lieder zu finden", antwortete Bohlen. Es klang allerdings nicht besonders überzeugend.
"Inspiration? Bei einer Cockactrice?"
Bohlen wand sich etwas:
"Es ist so....meine Lieder.....treffen manchmal nicht ganz den Geschmack des Publikums. Mit meiner letzten Gruppe hatte ich da einige Streitgespräche über meine Sangeskunst. Sie waren der Meinung, das ich doch lieber alleine..."
"Bei Thor!",lachte Ryan, "Sie haben euch rausgeschmissen!"
Bohlen wurde rot und seine Stimme ärgerlich:
"Bei Bragi, das waren einfach Banausen! Nichts verstehen sie vom Singen. Immer nur Rauf- und Sauflieder wollen sie hören! Dabei habe ich ihnen wirkliche Kunst vorgetragen....wenn ihr wollt, dann werde ich aus meinen Werk singen! Bildet euch selber eine Meinung!"
Cedric grinste:
"Warum nicht? Laßt eure Stimme hören, Skalde!"
Und Bohlen begann zu singen. Seine Stimme war laut, kräftig....und einfach unbeschreiblich. Bereits nach wenigen Sekunden verfluchte Ryan seinen Freund innerlich dafür, das er diesen Bohlen zum Singen aufgefordert hatte, Lancelot stopfte sich unbemerkt ein paar Stofffetzen in die Ohren, die Pferde wieherten unruhig und besonders Stoppel schnaubte böse und schien zu bedauern, bei dem Kampf die falsche Partei ergriffen zu haben.
Cedric schaffte es, ein ausdrucksloses, fast interessiertes Gesicht zu zeigen, während der nordische Skalde sein Lied vortrug. Luka, der keine Ohrstöpsel hatte, sah nun wirklich so gequält aus, daß ihm jeder den Gefangenen abgenommen hätte.
In dem Lied ging es um eine zehntägige grausame Schlacht mit den Hibernianern, Bohlen widmete jedem Tag eine ganze Strophe, und seine Stimme verfügte über eine der Grausamkeit des Kampfes angemessene Palette an verschiedenen Tonhöhen und Lautstärken.
"Keine Schlacht kann so furchtbar gewesen sein wie dieses Lied!", dachte Ryan und verstand, warum dieser Skalde einsam durch Midgard wandern mußte.
Bohlen beendete seinen Vortrag und schaute erwartungsvoll auf seine Zuhörer. Cedric räusperte sich:
"Beeindruckend, bei Odin selbst! Das ist wahrlich kein einfaches Lied!" Ryan warf ihm einen entsetzten Seitenblick zu. Bohlen bemerkte das aber nicht und strahlte freudig:
"Seht, es gibt noch Krieger, die wahre Kunst zu schätzen Wissen. Ich habe da noch ein weiteres Werk..."
"Nein wartet!", wehrte Cedric ab, "Erst müssen wir euer erstes Kunstwerk angemessen wirken lassen, bevor wir bereit sind für ein weiteren, sicher ebenso unglaublichen Vortrag!"
"Sicher, sicher..." nickte Bohlen, "gehaltvolle Lieder hinterlassen oft lange einen tiefen Eindruck. Aber vielleicht fühlt ihr euch morgen dazu bereit? Wenn euer Weg auch nach Muspelheim führt, würde ich gerne mit euch reiten!"
Cedric überlegte schnell. Einen ortskundigen Führer zu haben, wäre sicher ein unschätzbarer Vorteil. Dieser Bohlen war so begeistert, endlich ein Publikum gefunden zu haben, er würde ihnen alles glauben, was sie sagten, solange sie nur seine Lieder lobten. Das aber war auch gleich die andere Seite - er würde wieder singen! Doch schließlich geht es um Albion, dachte Cedric, und für das Reich ist kaum ein Opfer zu groß! Und er sagte zu Bohlen:
"Bei Odin, steigt auf eines der Pferde, Skalde, und begleitet uns nach Osten!"